wegen + Genitiv oder Dativ

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wegen + Genitiv oder Dativ (Frage 6e)

Der Kasus nach der Präposition wegen ist ein besonders prominenter Fall unter den Variationsphänomenen, die von sprachkritisch engagierten Laien gern als „Verfall“ der Sprache angesehen werden. Bei einer Google-Suche (8.10.23) mit den Suchbegriffen „wegen“ „Dativ“ „Genitiv“ erscheint unter „Weitere Fragen“ an oberster Stelle die Frage „Ist wegen mit Dativ erlaubt?“ und dazu die Antwort „Schön ist das nicht. Aber leider auch nicht falsch. [...]“ , als deren Quelle überraschenderweise die Seite „Grammis“ des Instituts für deutsche Sprache angegeben ist (https://grammis.ids-mannheim.de/fragen/67). Dort allerdings ist die von Google ausgewählte Passage eins der Beispiele für Äußerungen selbst ernannter Sprachpfleger, die mit vehementer Parteinahme für den Genitiv nach wegen an der Realität der Sprache vorbeigehen (wie ja auch schon die Frage nach „erlaubt“ abwegig ist). Wegen ist laut dem Duden Online-Wörterbuch eine „Präposition mit Genitiv“, aber „mündlich standardsprachlich und schriftlich umgangssprachlich auch mit Dativ“.

Die Präposition wegen hängt mit dem Substantiv Weg zusammen, sie hat sich aus von … wegen entwickelt (etwa: ‚von der Seite von … her‘ ), das wohl aus dem Mittelniederdeutschen nach Süden vorgedrungen ist und zuerst in der hochdeutschen Urkundensprache auftritt  (s. DWB  Bd. 27, Sp. 3091; Pfeifer, Kluge).  Die Form wegen lässt sich also als Dativ plural von Weg erklären (Dativ nach von). Das Wort oder die Wortgruppe, das/die hiervon abhängt und den Grund angibt, stand zunächst hinter von und vor wegen (vgl. noch meinetwegen), seit dem 15. Jh. zunehmend hinter wegen (s. DWB Bd. 27, Sp. 3092), das sich also immer deutlicher zur einfachen Präposition entwickelt. Der Kasus der abhängigen Wörter ist von der Herkunft der Präposition her der Genitiv, weil diese Wörter ja angeben, „von wessen Seite“ her etwas begründet ist. Heute ist diese Präposition aber nicht mehr durchsichtig, man erkennt keine grammatische Konstruktion mehr darin, die einen Genitiv verlangen würde. Da wegen außerdem häufiger vorkommt als die meisten anderen Präpositionen, die den Genitiv verlangen, gibt es hier eine Tendenz zur Verwendung des grundsätzlich geläufigeren Dativs in der Alltagssprache. Diese ist allerdings nicht neu – einzelne Belege mit wegen plus Dativ gehen zurück bis ins 14. Jh. (DWB ebd.), und schon Adelung (Bd. 4, S. 1428) bemängelt Ende des 18. Jhs. diesen Gebrauch: „Fehlerhaft ist es, wenn diese Präposition im Oberdeutschen so gern mit dem Dative verbunden wird.“

Für unsere Frage wurde ein Beispiel im Plural gewählt - „Wegen den / der / de Reifen muss ich nochmal in die Werkstatt.“  - damit einerseits Genitiv und Dativ unterscheidbar sind, andererseits aber keine auffällig markierte Genitivform benötigt wird, die eventuell ein Grund sein könnte, den Genitiv zu vermeiden. Das Ergebnis zeigt klar, dass wegen + Genitiv in der Alltagssprache nur in Niedersachsen und Schleswig-Holstein/Hamburg sowie streckenweise in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg-Berlin, Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen als üblich angesehen wird – also dort, wo die Alltagssprache am standardnächsten ist. Als Zweitvariante kommt wegen + Genitiv auch noch in Sachsen und Thüringen häufiger vor und vereinzelt in Hessen und Rheinland-Pfalz – dort dominiert aber schon eindeutig wegen + Dativ, das auch überall in den zuerst genannten Gebieten häufig angegeben wurde. Weiter südlich wurde die Genitivform überhaupt nicht gemeldet. Im Südwesten sowie im größten Teil von Bayern (außer Franken) und in Österreich ist allerdings auch der Dativ nicht an der Nominalgruppe zu identifizieren, hier heißt es im Beispielsatz wegen de.

Der Vergleich mit der Karte wegen mir/meinetwegen (https://www.atlas-alltagssprache.de/runde-7/f12d/) zeigt jedoch, dass in diesen Gebieten in dem Fall überall der Dativ wegen mir angegeben wurde.

Deutlich anders sieht das Bild dagegen in der geschriebenen Sprache aus: Nach der Variantengrammatik (http://mediawiki.ids-mannheim.de/VarGra/index.php/Wegen) erscheint in Zeitungstexten fast überall zu über 90 % der Genitiv nach wegen, nur in der Schweiz ist der Anteil des Dativs ein bisschen höher, er liegt hier bei 10-20 %.