hellhörig/ringhörig

hellhörig/ringhörig (Frage 4d)

Wenn man jedes Geräusch der Nachbarn hört, sagt man in Deutschland, Österreich, Südtirol, Liechtenstein, Ostbelgien und Lothringen "Unsere Wohnung ist leider ziemlich hellhörig". Auch in der Schweiz wird teilweise hellhörig verwendet, ganz überwiegend ist hier aber ringhörig üblich.

Ringhörig charakterisiert sowohl einen "weit oder leicht vernehmbaren" Schall als auch eine "Räumlichkeit, welche denselben leicht fortpflanzt" (Schweizerisches Idiotikon); es gehört zu dem Adjektiv ring, das eine präfixlose Variante von gering ist und 'leicht' bedeutet (wie schon ahd. (gi-)ringi), u.a. auch 'leicht zu bewältigen, mühelos' (ebd.). Es geht also um mühelos zu hörende Geräusche.

Hell verwendet man heute zumeist auf visuelle Eindrücke bezogen (im Sinn von 'lichterfüllt; lichtstark', auch für Farben mit einem relativ hohen Anteil von Weiß). Daneben wird das Wort auch noch für Töne und Klänge benutzt, die einen starken Anteil hoher Frequenzen im Obertonspektrum aufweisen (s. https://en.wikipedia.org/wiki/Timbre#Brightness), im Sinn von 'hoch klingend, klar' (Duden Online). Man versteht dieses Nebeneinander von visueller und auditiver Bedeutung von hell vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die meisten Menschen eine Zuordnung zwischen Tonhöhe und Helligkeit (im Sinn von Licht) vornehmen, nach der hohe Töne als "hell" und tiefe als "dunkel" wahrgenommen werden ("cross-modale Korrespondenz", s. https://de.wikipedia.org/wiki/Synästhesie).

Als primär erscheint dabei heute die Verwendung von hell in Bezug auf visuelle Eindrücke. Historisch ist es dagegen umgekehrt: hell ist mit hallen verwandt, im Mhd. gibt es noch das Verb hellen ‘ertönen, erschallen’. Während hel im Ahd. ‘tönend’ noch allein auf Klänge bezogen belegt ist (ab dem 11. Jh.; auch gihelli ‘harmonisch’, 10. Jh., unhelli ‘mißtönend’, um 1000), findet sich schon im Mhd. daneben auch die Bedeutung ‘glänzend, licht’, die im weiteren Verlauf immer mehr in den Vordergrund tritt, sodass das ältere Adjektiv licht weitgehend von hell verdrängt wird, so auch bei Luther (Pfeifer, DWB). (Eine ähnliche Entwicklung hat übrigens auch das mit hell verwandte lat. clarus (> klar) durchgemacht, EWN). Eine weitere Bedeutungserweiterung führt dann zur Verwendung von hell für Augen, "die volle sehkraft haben, das licht aufzufassen vermögen, während gegensätzlich dazu dunkele augen blöde, der sehkraft beraubte sind" (DWB).

Dem entspricht für das Hörvermögen hellhörig mit der im RhWb verzeichneten Bedeutung 'gut hörend'. Auch im Duden online ist diese Bedeutung noch (als veraltet) angegeben; noch gebräuchlich sind aber vor allem die Wendungen hellhörig werden und hellhörig machen, wo im übertragenen Sinn eher plötzliche Aufmerksamkeit gemeint ist. Hellhörig ist weder im DWB noch bei Adelung verzeichnet, nach Pfeifer ist das Wort – in der Bedeutung ‘mit scharfem Gehör ausgestattet, fähig, nicht Ausgesprochenes zu erraten’ – erst ab dem 19. Jh. belegt. Im Niederdeutschen scheint es allerdings älter zu sein, auch schon in der Bedeutung 'schalldurchlässig': Das Idioticon Hamburgense führt schon Mitte des 18. Jhs. auf: "hellhörig: schallend. Een hellhörig Huus: Ein Haus, dessen Nachbar helle hören kann, was darin vorgehet", vgl. ebenso das Holsteinische Idiotikon von 1800: "hörig, hellhörig: wo man alles hören kann. En hellhörig Huus: Haus mit dünnen Wänden, wodurch der Nachbar alles hört." Ein früher hochdeutscher Beleg stammt ebenfalls aus einem lokalen Hamburger Kontext, die Paraphrase einer Zeugenaussage in einer kriminalistischen Zeitschrift von 1827: "Ihr Saal sey nur ganz niedrig und die Breter sehr dünne, so daß es sehr hellhörig sey." [1]

Daneben ist hellhörig im Lauf des 19. Jhs. häufiger auch auf die Luft bei bestimmten Wetterlagen, bei denen Geräusche weithin hörbar sind, bezogen – teilweise in Anführungszeichen und als volkstümlicher oder niederdeutscher Sprachgebrauch charakterisiert, etwa: "Die Luft ist »hellhörig« (hellhöri), wie der Niederdeutsche so bezeichnend sagt." [2]

In der zweiten Hälfte, vor allem im letzten Viertel des 19. Jhs. finden sich dann zunehmend Belege für hellhörig bzw. in erster Linie für das Substantiv Hellhörigkeit in Fachtexten, die sich kritisch mit der Bauweise von "modernen" Häusern befassen. Durch den massenhaften Bau mehrstöckiger Mietshäuser in den Großstädten rückte in dieser Zeit offenbar das Problem der Schalldurchlässigkeit der Decken zwischen den Etagen ins Bewusstsein der Fachleute, und das Wort aus dem Niederdeutschen benannte dieses Problem genau. ("Ein Vorwurf, der unseren modernen Miethhäusern täglich gemacht wird, ist die grosse Hellhörigkeit", Gesundheits-Ingenieur. Organ des Vereins für Gesundheits-Technik Nr. 17 (1881); "die mit den Hohlräumen entstehende Hellhörigkeit bringt den Bewohner zur Verzweiflung", Dinglers polytechnisches Journal Bd. 282 (1890).)

Trotz der schon damals diskutierten baulichen Lösungsansätze besteht das Problem weiterhin, wie die Geläufigkeit des Worts heute zeigt. In Korpora [DWDS Kern- und Zeitungskorpus, google books] zeigt sich allerdings nach einem stetigen Anstieg seiner Gebrauchshäufigkeit vom späten 19 Jh. bis zur Zeit der Wohnungsnot in den 1950er Jahren dann wieder ein Rückgang, der sich im 21. Jh. fortsetzt.

[1] Criminalistische Beyträge hg. v. M. H. Hudtwalcker, Dr. der Rechte und Senator in Hamburg, und Carl Trummer, Dr. der Rechte und Advocat daselbst. 3. Bd. 1. Heft; 1827; S. 17f.
[2] Hermann Masius: "Wenn der Herbst kommt!" in: Ders.: Naturstudien (1852–1862).