Bunte Glaskugeln

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Bunte Glaskugeln (Frage 3e)

Wie werden die „kleinen bunten Glaskugeln, mit denen Kinder spielen (und die sie oft auch tauschen),“ genannt? Unsere Karte präsentiert eine ausgesprochene Vielfalt von Bezeichnungen.

Die am weitesten verbreitete Bezeichnung, wie sie auch die Wörterbücher des Standarddeutschen verzeichnen (z.B. LGWbDaF), ist Murmel. Sie wird – außer in Südtirol und Teilen der Schweiz – fast überall verwendet. Murmel (im Schwäbischen und in Liechtenstein zudem in der Lautung Murmla) leitet sich von Marmor ab.

Dies gilt ebenso für die Varianten Marmel und Marmeli, die in den Schweizer Katonen Bern, Wallis und Solothurn üblich sind (Marmel kommt als Nebenvariante auch noch in Bremerhaven und Ostfriesland vor) sowie für die umgelautete Form Märmeli (in der Gegend um Biel gebräuchlich). Auch die kleinregional üblichen Formen Marflu (Wallis) und Merwel (Mosel, s. RhWb) lassen sich Marmor zuordnen. Tatsächlich bestanden diese Spielkugeln in früheren Zeiten häufig aus Marmor (Pfeifer). Glaskugeln sind eine jüngere Erscheinung; eine preiswertere Variante waren Kugeln aus Ton. (An einigen wenigen Orten unterschieden die Gewährsleute in den Benennungen zwischen Kugeln aus Glas und Kugeln aus Ton. Die folgenden Bezeichnungen beziehen sich allerdings – wie es in der Frage formuliert worden war – zunächst auf Glaskugeln.)

Aus dem Saarland, Rheinland-Pfalz, dem Siegerland, aus Teilen Hessens sowie auch aus dem rheinfränkischen Teil Bayerns wurde Klicker gemeldet; im Saarland und in der Pfalz ist Klicker deutlich häufiger als Murmel. Wie das Wort Knicker, das man in Eupen, der Grafschaft Bentheim sowie in einigen Städten Nordrhein-Westfalen noch kennt (es war vor einigen Jahrzehnten im ganzen Nordwesten verbreitet, s. (WDU I, 50), ahmt der Ausdruck Klicker das Zusammen,klicken‘ der Kugeln lautlich nach.

In den dialektal bairischen und fränkischen Teilen Bayerns heißt die Spielkugel Schusser. Das Verb schießen, aus dem sich Schusser ableitet, weist auf das ,Schießen‘, das ,Fortschnellen‘ der Kugeln beim Spiel hin (DWB XV, 2076). Die Kinder in Bayerisch-Schwaben hatten ein eigenes Wort, nämlich Klucker oder – ‚weicher‘ gesprochen – Glugger, das ebenfalls lautnachahmend ist.

Eine früher in ganz Tirol, heute fast nur noch in Südtirol gebräuchliche Variante ist Spicker. In der Schweiz, vor allem in den Kantonen Zürich und Schaffhausen, kennt man die Spielkugel unter der Bezeichnung Chlüüre, welche das Schweizerische Idiotikon vom griechisch-lateinischen collyra, collyrium ‘Körper von länglich runder Gestalt’ ableitet. Aus Kärnten wurde Schlatzl gemeldet, eine Kurzform von Schlatzkugel; schletze(l)n hat in Kärntner Dialekten wiederum die spezielle Bedeutung ‘mit schnellkügelchen spielen’ (DWB XV, 401). Die Beschreibung als Kugel steckt in den Varianten Chügeli, die man in verschiedenen Orten in der Schweiz kennt, und Kegla, wie man in einem Teil des Elsass sagt. Üblicher ist im Elsass aber wohl Stinzer (oder Stinser), eine entrundete Form von Stünzer (ElsWB II, 607a). In Lothringen ist die Spielkugel als Schick(e) bekannt (LothWB I, 440b).

Weiter aus dem Norden wurden schließlich noch weitere Einzelvarianten genannt, nämlich Bucker in Berlin-Brandenburg (s. https://www.mediensprache.net/de/basix/berlinisch/lexikon/) und das sicher damit verwandte Püker in Sachsen-Anhalt.

In den deutschen Dialekten soll es über 200 verschiedene Wörter für diese Spielkugel geben (KSBS, 162). Einen Eindruck davon vermittelt etwa die Karte für ‘Murmel’ im Rheinischen Wortatlas (RWA, 20), die allein für das Rheinland 19 Varianten aufführt. Die – je nach Zählung – 12 bis 20 Ausdrücke, die unsere Karte der Verhältnisse in der heutigen Alltagssprache erfasst, zeigen also nur noch einen relativ kleinen Teil der ursprünglichen Bezeichnungsvielfalt. Der Vergleich mit einer Karte entsprechender Wörter aus den 1970er Jahren (WDU I, 50) zeigt darüber hinaus sehr eindrücklich, dass die regionaltypischen Bezeichnungen in den meisten Gebieten Deutschlands und Österreichs vom Wort Murmel verdrängt worden sind. Wie im Falle von Schluckauf ließe sich vermuten, dass sich die als besonders ‚hochdeutsch‘ angesehene Variante immer mehr durchgesetzt hat. Eine andere Interpretation wäre: Wie bei anderen Kinderspielen und deren Benennungen (z.B. Fangen (Kinderspiel)) hängt der Rückgang der Bezeichnungsvielfalt damit zusammen, dass viele alte Spiele ungebräuchlich geworden sind und damit die regional tradierten Bezeichnungen vergessen werden.