Balkon, Karton (Aussprache)

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Aussprache von Balkon und Karton (Frage 9a und 9b)

Karton und Balkon gehen beide auf italienische Augmentativformen zurück, also das im Italienischen existierende Gegenstück zu Diminutiven, das Stärke, Größe o.ä. ausdrückt (wie etwa auch bei palla 'Kugel, Ball' - pall-one > Ballon). Das Basiswort cart(a) 'Papier' stammt von lat. charta < griech. chártēs 'Blatt der ägyptischen Papyrusstaude, daraus zubereitetes dünnes Papier' ab, das Wort ist vermutlich ägyptischen Ursprungs (Duden-Etymologie). Bei *balko 'Balkengerüst' handelt es sich dagegen um ein germanisches Wort (ahd. balko, nhd. Balken), das wohl über das Langobardische ins Italienische gekommen ist. Beide -one-Ableitungen sind dann vom Italienischen ins Französische gelangt, unter Angleichung an das französische Lautsystem, und von da aus ins Deutsche entlehnt worden, Karton im 17. Jh. und Balkon im 18. Jh. Bei den französischen Lehnwörtern aus dieser Zeit stellt sich immer die Frage, inwieweit sich ihre Aussprache an das Deutsche angepasst hat oder – angesichts der in der Bildungsschicht verbreiteten Französischkenntnisse – am französischen Vorbild ausgerichtet geblieben ist. Insbesondere die französischen Nasalvokale haben kein Äquivalent im Deutschen und werden deswegen sehr häufig ersetzt (aber nicht grundsätzlich, vgl. z.B. Restaurant), und zwar durch Kombinationen von nichtnasalem Vokal und nasalem Konsonanten ([n] oder meistens eher [ŋ] (ng), weil dies von der Artikulation her dem nasalen Vokal näher ist). Einen systematischen Unterschied zwischen Französisch und Deutsch gibt es darüber hinaus in der Wortbetonung, die im Französischen auf der letzten, in den germanischen Sprachen dagegen auf der ersten Silbe liegt.

Die erste Karte zeigt, dass Karton fast überall wie im Frz. auf der zweiten Silbe betont wird, nur nicht im Südwesten, in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz sowie in der Schweiz – also gerade den Gebieten, die eher im Kontakt zum Französischen stehen. Noch auffälliger wird dies bei den Meldungen aus Ostbelgien, Luxemburg, dem Elsaß und Lothringen, also zweisprachigen Regionen – gerade hier dominiert klar die Betonung auf der ersten Silbe nach germanischem Muster.

Umgekehrt sind die Regionen, wo der französische Nasalvokal beibehalten wird, ebenfalls die Schweiz, das Elsaß und Lothringen sowie Württemberg, während er im übrigen Deutschland und in einem Teil der Schweiz durch -ong ersetzt wird. (Außer der Vertrautheit mit der französischen Sprache könnte hier auch eine Rolle spielen, ob es in den jeweiligen deutschen Dialekten Nasalvokale gibt – dies ist besonders im Schwäbischen der Fall, aber auch im Mittelbairischen, s. Schirmunski, 390f.) Statt durch die Kombination  "kurzes o + ng" ersetzen die Sprecher in Bayern (ohne Franken) und Österreich sowie im Osten der Schweiz den Nasalvokal durch langes o + n. Eine mögliche Erklärung ist, dass der Kontakt mit gesprochenem Französisch im 17./18. Jh. in diesen Gebieten geringer war als im Norden Deutschlands und sich deshalb die Aussprache mehr nach der geschriebenen Form richtet, eine andere, dass das Wort hier direkt aus dem Italienischen entlehnt wurde (vgl. AADG zu Balkon) oder zumindest italienischer Einfluss mitspielte.

Trotz der fast identischen phonologischen Ausgangssituation ist das Bild bei Balkon nicht ganz gleich: Hier beschränken sich die Meldungen für nasale Aussprache des Vokals auf Lothringen/Elsaß, einige Orte in der Schweiz und Luxemburg; in Württemberg und meistens auch in der Schweiz wird der Nasalvokal hier stattdessen auch mit "lang o + n" substituiert, und diese Variante reicht neben derjenigen -ong hier linksrheinisch noch hinauf bis ins Rheinland  (was beides nicht sehr gut zu den oben angegebenen Erklärungsmöglichkeiten passt – am besten etabliert ist die Aussprache -oon aber auch in diesem Fall in Österreich und der Schweiz). Gleichzeitig reduzieren sich die Gebiete mit Betonung der ersten Silbe hier jetzt im Wesentlichen auf die Schweiz, Luxemburg und Lothringen/Elsaß (plus einige grenznahe Orte in Baden).

Die Karte des AADG zur Betonung von Balkon entspricht diesem Bild (vgl. AADG). Auch dort ist Erstbetonung im Wesentlichen nur in der Schweiz und ganz verstreut in Baden-Württemberg anzutreffen (in Luxemburg dagegen nicht); ganz vereinzelt auch noch in anderen Gegenden Deutschlands.